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Wirtschaft warnt vor dem digitalen Stillstand

Aus Sicht der Fachpolitiker von Union und SPD war die Sache immer klar: Für das Thema Digitalisierung muss es einen hochrangigen Koordinator in der neuen Bundesregierung geben. Noch kurz vor den Verhandlungen hatte der SPD-Generalsekretär und parteiübergreifend anerkannte Digitalexperte Lars Klingbeil im Gespräch mit dem Handelsblatt sogar ein eigenes Ministerium für Digitales vorgeschlagen. Das Thema sollte endlich mehr Gewicht bekommen. Auch Kanzleramtschef Peter Altmaier hatte öffentlich gemahnt, dass es zumindest einen Staatsminister für Digitalisierung im Bundeskanzleramt geben sollte.

Doch trotz des breiten Konsenses sieht es derzeit so aus, als bleibt – offenbar auf Druck der CSU – alles beim Alten: Das Verkehrsministerium hat weiterhin den Zusatz „Digitales“ im Namen, ansonsten ist das Thema wie schon in der vergangenen Legislaturperiode wild verstreut in den Ressorts Wirtschaft, Inneres, Bildung und Arbeit – ohne dass jemand den Hut aufhat. Die Große Koalition hat sich weder auf ein eigenständiges Digitalministerium noch auf einen Staatsminister für Digitales im Kanzleramt verständigt.

Die deutsche Wirtschaft ist darüber tief enttäuscht und fordert mit einem breiten Bündnis eine Nachjustierung in dem Punkt von der Großen Koalition. Wie das Handelsblatt erfuhr, startet der Bundesverband Deutsche Start-ups an diesem Mittwoch auf der Seite digitalministerium.org eine entsprechende Petition – unterstützt von namhaften Wirtschaftsverbänden und Regierungsberatern. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) setzt sich ebenso wie der IT-Verband Bitkom, der Internetverband Eco, der Bundesverband IT-Mittelstand und der Bundesverband Digitale Wirtschaft (BVDW) für die Initiative ein. Auch der Beirat Digitale Wirtschaft, ein Beratergremium im Bundeswirtschaftsministerium ist dabei. „Die Digitalisierung ist die größte Veränderung der Gegenwart“, heißt es in der Petition, die dem Handelsblatt vorliegt. „Dieser Veränderung kann man nicht erfolgreich begegnen, indem man nichts ändert. Trotz schlechter Erfahrungen aus den vergangenen vier Jahren plant die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD ein ‚Weiter-so‘ und stellt keinen Minister für Digitales“, kritisieren die Verfasser.

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Die breite Kritik ist ein weiterer Rückschlag für die Große Koalition, bevor eine neue Regierung überhaupt zustande gekommen ist. Zumal Teile der Wirtschaft gar nicht so unzufrieden waren mit den im Koalitionsvertrag verabredeten Maßnahmen für die Digitalpolitik. Florian Nöll, Chef des Bundesverbands Deutsche Startups, lobte sogar die Vorhaben für die Gründer. Doch die Furcht ist groß, dass es zwar große Bekenntnisse und Versprechen gibt, sie aber am Ende nicht umgesetzt werden. „Die Aufteilung der Kompetenzen im Digitalbereich auf weiterhin mindestens vier Ministerien droht den Stillstand um vier weitere Jahre zu verlängern“, warnt Nöll. „Frankreich ruft die Start-up-Nation aus. Deutschland schafft ein Heimatministerium. So macht man keine Zukunft.“

Dabei hat Deutschland keine Zeit mehr zu verlieren. In wesentlichen Bereichen der Digitalisierung ist die Bundesrepublik international bereits weit abgeschlagen: Bei der Digitalen Verwaltung belegt Deutschland im europäischen Vergleich der EU-Kommission nur Rang 20. Beim schnellen Internet klaffen vor allem im ländlichen Raum, wo viele mittelständische Unternehmen sitzen, große Lücken. Bei der Verfügbarkeit von Wagniskapital, das für das Wachstum von Start-ups zu großen Konzernen wichtig ist, belegt Deutschland im internationalen Pro-Kopf-Vergleich nur Platz elf. „Wir drohen endgültig den Anschluss zu verlieren, mit fatalen Folgen für Arbeit, Wohlstand und sozialen Frieden“, warnen die Verfasser der Petition.

Auch die deutschen Bürger wünschen sich mehr Engagement der Großen Koalition bei der Digitalisierung, wie eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey für den Bundesverband Deutsche Startups vom 12. Februar zeigt, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt. Demnach fordern 66 Prozent der Befragten, dass die Digitalisierung in der möglichen Großen Koalition einen „deutlich höheren“ Stellenwert als bisher einnimmt. 11,5 Prozent fordern sogar, dass das Thema den höchsten Stellenwert hat.

Der Wunsch nach einer höheren Priorisierung der Digitalisierung ist dabei nahezu unabhängig vom Alter der Befragten. Bei den über 65-Jährigen wünschen sich sogar fast 70 Prozent, dass das Thema einen höheren Stellenwert einnimmt, und weitere knapp elf Prozent, dass es den „höchsten“ Stellenwert einnimmt.

Ebenso kritisieren die anderen Parteien, dass es keinen Koordinator für Digitales geben soll. „Der Grund, warum es in den letzten vier Jahren bei der Digitalisierung keine Fortschritte gab, waren nicht eine mangelnde Erkenntnis oder fehlende Ideen. Die Ministerien haben sich vielmehr immer gegenseitig blockiert“, sagt Manuel Höferlin, digitalpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag. „Es ist mir ein Rätsel, wie eine neue Regierung daraus keine Konsequenzen ziehen kann.“ Auch der Staatsminister im Kanzleramt könne die Koordination beim Digitalen nicht kraftvoll erledigen, so Höferlin, weil es für ihn nur ein Thema unter vielen wäre. Sollte es dabei bleiben, fürchtet er, wird es einen weiteren Stillstand bei der Digitalpolitik für die nächsten vier Jahre geben.

Hoffnung auf Nachsteuerung

Selbst enge Berater der Bundesregierung warnen davor, die Digitalisierung wie bislang geplant nicht mit einem übergeordneten Koordinator zu bedenken. Johannes Ludewig, Chef des Nationalen Normenkontrollrats im Bundeskanzleramt und in den vergangenen Jahren einer der schärfsten Kritiker der Bundesregierung bei der Digitalen Verwaltung, äußerte im Gespräch mit dem Handelsblatt jüngst seine Enttäuschung über die fehlende Position. „Wenn es bei der Steuerung in den verschiedenen Ministerien ohne einheitliche Koordinierung bleibt, wäre das sehr ungünstig“, mahnte er. „Das haben wir aus der vergangenen Legislaturperiode gelernt.“ Ludewig weiß, wovon er spricht. Bereits in ihrem letzten Koalitionsvertrag hatten Union und SPD versprochen, dass sie die 100 wichtigsten Verwaltungsdienstleistungen bis zum Ende der Legislaturperiode komplett digitalisieren wollen – doch am Ende wurde gerade mal eine digitalisiert. „Es hilft einem Unternehmen nicht viel, wenn es zwar einen Breitbandanschluss hat, aber Anträge noch per Post an die Behörden schicken muss“, kritisiert FDP-Digitalsprecher Höferlin.

Auch der Beirat Junge Digitale Wirtschaft, ein Beratergremium beim Bundeswirtschaftsministerium, fordert eine deutliche Korrektur. „Wir brauchen für das zentrale Zukunftsthema Digitalisierung eine Politik aus einer Hand mit einem ressortübergreifenden Konzept“, mahnt Tobias Kollmann, Chef des Beirats. „Wir müssen deswegen eine zentrale Koordination mit einem Digitalminister oder einem Staatsminister für Digitales noch nachträglich einrichten.“

Die Krux ist: Die Fachpolitiker aus Union und SPD sind inhaltlich durchaus zufrieden mit dem Koalitionsvertrag, selbst konkurrierende Parteien wie die Grünen können den darin enthaltenen Vereinbarungen etwas abgewinnen. „Auch vor dem Hintergrund der sich durchaus gut lesenden digitalpolitischen Passagen des Koalitionsvertrags ist mir völlig unverständlich, dass die Bundesregierung nicht endlich für eine angemessene Koordinierung der Digitalpolitik sorgt“, sagte Konstantin von Notz, stellvertretender Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Bundestag dem Handelsblatt. Statt klare Zuständigkeiten zu schaffen, halte man an dem Kompetenzwirrwarr der letzten Jahre bewusst fest. „Das wird absehbar dazu führen, dass Deutschland weiter den Anschluss verliert.

Die Bundesregierung schadet dem Wirtschaftsstandort massiv“, sagte Notz.Noch besteht ein wenig die Hoffnung, dass es am Ende vielleicht doch noch einen Staatsminister für Digitales geben könnte. Denn Merkels Generalsekretär Peter Tauber, der derzeit erkrankt ist, wurde bisher noch mit keinem Posten bedacht. Er gilt als versiert bei Digitalthemen.

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