Roger Bootle, der 1999 das private Wirtschaftsforschungsinstitut Capital Economics gegründet hat, erkannte den Trend früh. Vor zehn Jahren schon verkündete er "Das Ende der Inflation". Im gleichnamigen Buch fasst er auf populäre Weise zusammen, was bis heute plausibel erscheint: Die Globalisierung, so die These, hat der Inflation den Garaus gemacht. Lohn- und Preissteigerungen lassen sich im oft brutalen internationalen Wettbewerb immer seltener durchsetzen. Auch andere Wissenschaftler sehen im Aufstieg der Entwicklungsländer die wahrscheinlichste Erklärung für das Verschwinden der Inflation. Die stete Gefahr, dass noch mehr Arbeitsplätze ins Ausland verlagert werden, trägt dazu bei, die Löhne niedrig zu halten, während die Flut billiger Waren aus Asien und Osteuropa die Preise in den Industrieländern drückt.
Hinzu kommt der Einsatz neuer Technologien - vom Computer bis zum Internet -, der die Wirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten fundamental verändert hat und weiter revolutionieren wird. In den 90er-Jahren milderte steigende Produktivität den Druck auf die Preise und machte niedrige Zinsen möglich. Heute dürfte es eher die Sharing Economy sein, die mit ihren vielen günstigen Angeboten wie den Taxi-Diensten von Uber, den Übernachtungen von Airbnb und dem Shoppingangebot von Amazon für sinkende Preise sorgt. Und morgen sind es Roboter und künstliche Intelligenz, die den Beschäftigten Konkurrenz machen und es den Unternehmen ermöglichen, günstige Produkte anzubieten. Was die Globalisierung in den 90er-Jahren und danach war, könnte die Technologie in Zukunft sein: ein Schock für die Wirtschaft, der die Preise drückt.
Die Welt steht Kopf
Denkbar ist auch, dass die Notenbanken selbst dafür gesorgt haben, dass heute kaum mehr jemand die Inflation fürchtet: Mit ihrer harten Anti-Inflationspolitik haben sich die Währungshüter in den 70er-Jahren Glaubwürdigkeit und Ansehen erkämpft, die später nicht enttäuscht wurden, weil die Teuerung im Rahmen blieb. Nun rechnet eben kaum noch jemand damit, dass die Inflation gefährlich werden könnte. Das schlägt sich dann auch in mäßigen Lohnforderungen nieder. Zugleich erodiert die Macht der Gewerkschaften, Lohn-Preis-Spiralen wie früher werden unwahrscheinlich.
Naheliegender aber ist, dass die Inflation vor allem das Ergebnis realwirtschaftlicher Phänomene (Globalisierung, technologischer Fortschritt) ist, auf die eine Notenbank nur begrenzten Einfluss hat. Das würde die These des Nobelpreisökonomen Milton Friedman auf den Kopf stellen, der überzeugt war, dass Inflation stets das Ergebnis schlechter Geldpolitik ist. "Inflation", lautet einer seiner berühmtesten Sätze, "ist immer und überall ein rein monetäres Phänomen." Das war im Jahr 1970. Heute weiß man: Auch ohne lockere Geldpolitik wird es keine Inflation geben. Und wenn es Inflation gibt, kann die Notenbank sie eindämmen. Wenn es aber wie heute keine Inflation gibt, dann wird es schwierig.
"Die Zentralbanken müssen sich fühlen, als wären sie durch einen Spiegel getreten", glaubt BIZ-Denker Borio. "Früher haben sie die Inflation bekämpft, heute mühen sie sich, die Preise anzutreiben." Früher fürchteten sie höhere Löhne, jetzt werben sie dafür. Früher hassten sie es, wenn Staaten auf Pump konsumierten, heute rufen sie nach Konjunkturprogrammen. Die Welt steht Kopf. Und die Notenbanker müssen sich sorgen, ob ihr Kompass kaputt ist. Wenn es nämlich stimmt, dass die Inflation dauerhaft besiegt ist, dann passt ein Inflationsziel von zwei Prozent nicht mehr in diese verrückte neue Welt.
Letzte Option: null Prozent
Der Präsident der Notenbank von San Francisco, John Williams, beispielsweise glaubt, dass die unkonventionelle Geldpolitik noch viele Jahre, wenn nicht über ein Jahrzehnt gebraucht wird - aus einem einfachen Grund: Früher, als Inflation und Leitzinsen höher waren, konnte die Fed im Abschwung die Zinsen kräftig senken - zuletzt in den Jahren 2007 bis 2009 von 5,25 Prozent auf null. Im nächsten Abschwung dürfte der Spielraum viel kleiner sein, also bleiben wieder nur der massenhafte Kauf von Anleihen oder negative Zinsen. Oder ein höheres Inflationsziel von vier Prozent. Die Fed und andere Zentralbanken haben das schon diskutiert, allerdings kontrovers. Wenn die Notenbank es schon nicht schafft, zwei Prozent Inflation zu erzeugen, wie soll sie dann auf vier Prozent kommen?
Bleibt als letzte Option ein Ziel von null Prozent Inflation, wie es die BIZ schon vorgeschlagen hat. Damit wären die Währungshüter die schwierige Aufgabe los, zwei Prozent Teuerung anzustreben, und sie könnten aus ihrer ultralockeren Geldpolitik aussteigen, die vor allem die Preise von Anleihen und Aktien nach oben treibt und die Gefahr von Spekulationsblasen birgt. Dieser Logik zufolge sollte die Geldpolitik lieber früher als später normalisiert werden, um die nächste Finanzkrise zu verhindern. Bei den Zentralbankern stößt die BIZ damit auf taube Ohren - wohl auch aus einem ganz einfachen Grund: Wie jede spannende Debatte in der Wirtschaftstheorie enthält die Diskussion um den Tod der Inflation ein gehöriges Maß an Spekulation. Auch wenn die Erklärungen für das Ausbleiben hoher Preissprünge vernünftig klingen, sind sie empirisch kaum belegt.
Ob die Inflation wirklich besiegt ist, vermag heute niemand zu sagen. Erinnert sei an das Jahr 1968, als die Preissteigerung in Deutschland knapp über Null lag. Damals hatte der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller erklärt, die Inflation sei tot, "so tot wie ein rostiger Nagel". Kurze Zeit später kehrte die Inflation zurück und steigerte sich in den 70er-Jahren nach der ersten Ölkrise in ein Desaster für alle, die auf stabile Preise gesetzt hatten.
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